Das Wasser lief langsam an der beschlagenen
Scheibe des alten Gebäudes herunter. Jemand sollte diese Fenster austauschen
lassen, dachte ich mir, während ich versuchte meine kalten Finger in meinem
Schal zu verstecken. Im Hörsaal war es viel zu kalt, als dass ich auch nur ein
paar Minuten zuhören hätte können. Natürlich war mir die Wichtigkeit dieser
Vorlesung deutlich, schließlich wollte ich englische Grammatik in weniger als 2
Jahren selbst unterrichten. Es war nur eben so, dass es verdammt kalt in diesem
Gebäude war. Hatte ich schon erwähnt, dass es wirklich kalt war? Wie auch
immer. Ich hatte keine Wahl. Ich packte meinen Collegeblock und das alte
Federmäppchen aus meiner Tasche und begann damit die Karos von Seite eins
auszumalen. Im Hintergrund nahm ich das monotone Geräusch englischer Sprache
wahr. So fühlte sich eine Pflichtveranstaltung an. Jan, mein jahrelanger Schul-
und Studienkamerad, saß neben mir und schrieb alles detailliert mit. Ich glaube
ohne ihn hätte ich schon nach 2 Semestern das Studium mangels
Organisationsgeschick aufgeben müssen. Regelmäßig stellte er mir meinen
Stundenplan zusammen und zwang mich zum Besuch der Vorlesungen. Ich hingegen
sorgte gelegentlich dafür, dass unsere kleine 50 qm-Wohnung nicht im Chaos
versank. „Emelie? Hast du mir zugehört?“, war das Erste dass ich von Jans
Stimme wahrnahm. Ich schaute ihn verwirrt an. „Die Vorlesung ist zu Ende,
wollen wir noch was trinken gehen?“ Ich erinnerte ihn daran, dass ich noch
einkaufen müsste und ein Buch in der Bibliothek abgeben, darum beschloss er
sich ohne mich auf den Weg nach Hause zu machen.
Ich packte meine Unterlagen
zusammen und verließ den Hörsaal, lief die alten Holztreppen runter zum
Eingangsbereich. Die Stufen knarrten bei jedem Schritt unter meinen Füßen. Als
ich nach draußen trat, fiel mir wieder ein, dass es regnete und ich bereute im
selben Augenblick, dass ich nicht mit Jan im warmen Auto nach Hause gefahren
bin. Ich öffnete das Schloß meines Fahrrads, warf mir den Rucksack auf den
Rücken und fuhr los. Ich hatte das Gefühl der Wind bohrte sich durch meine
Kleidung und verursachte bei jedem Regentropfen der mich traf ein Zittern. Nach
10 Minuten kam ich endlich am Supermarkt an und bestellte mir im innenliegenden
Bäcker einen Schwarztee. Ich musste mich aufwärmen und ging in der Zeit noch
einmal meine Einkaufsliste durch.
Dann
passierte es. Du standst vor mir.
„Hey, ich will dich nicht stören,
ich habe dich zufällig beobachtet, kann es sein, dass es dein Fahrrad ist, das
draußen umgefallen ist und jetzt vor der Eingangstür liegt?“ Ich blickte nach
draußen, sah mein Fahrrad im Eingangsbereich liegen und spürte wie ich rot
anlief. Schnell lief ich ohne ein Wort raus und stellte das Fahrrad wieder
zurück an die Straßenlaterne. Dieser Herbst raubte mir meine letzte Energie.
Ich ging rein und dieser Typ stand immer noch an meinem Tisch. Er bemerkte
meinen verwirrten Blick und meinte, er hätte sich verpflichtet gefühlt auf
meine Tasche aufzupassen. Er grinste. Er hatte ein wirklich schönes Grinsen,
dachte ich. Mein Blick fiel auf seine Grübchen, ausgesprochen schöne Grübchen. Mir
fiel auf, er hatte auch ein schönes Gesicht. Vielleicht lag das an diesen
Augen, blaue Augen. Es war wohl die Kombination zwischen den Lippen und den
Augen. Ich hätte zu gern gewusst welche Frisur sich unter der grauen Mütze versteckte.
Er trug eine einfache schwarze Jeans und einen hellblauen Pullover ohne
Aufschrift. Sein Outfit war so einfach und doch kam es mir vor, als hätte ich
nie etwas Schöneres gesehen. „Ich wünsche dir dann noch einen schönen Tag.“ Er
drehte sich um. Ich musste etwas tun. „Nein warte, ich möchte mich bedanken.“
Ich hob meine Tasse in die Luft, versuchte ein lächeln aufzusetzen. „Trinkst du
Tee?“ Wieder dieses Grinsen. Ich erfuhr
seinen Namen. Marc. Er bestellte sich einen schwarzen Kaffee und setzte sich
mir gegenüber an den Tisch. Ich wusste nicht was ich sagen sollte. Fragte mich
wie ein Mensch Kaffee ohne Milch trinken konnte. Ich fühlte mich zum ersten Mal
seit langer Zeit unglaublich wohl und wusste im selben Augenblick nicht wo ich
hinschauen sollte. Viel zu häufig nippte ich an meinem Tee.
„Was studierst du denn?“ unterbrach
er die Stille. „Ich studiere Englisch
und Germanistik auf Lehramt.“ Das hatte ich viel zu schnell gesagt. „Bist du
auch Student?“
Wir saßen lange nur auf diesen zwei
Stühlen, in der Supermarkt-Bäckerei, gegenüber. Zwischen uns nur zwei halbleere
Tassen, eine Schale Zucker und eine kleine Kerze, die irgendwann einfach erlisch.
Dieser Moment war magisch, wie im Film. Ich erinnere mich an jedes Detail. An
jede Geschichte, an jeden Scherz und sein Lachen ließ den Sturm draußen für
einen Moment verschwinden. Nie hätte ich geglaubt, dass mir so etwas jemals
passieren würde, dass ich einen Menschen treffe und diese Gefühle empfinden
würde. Ich war immer das ruhige Mädchen, das Mädchen ohne Beziehung, das
uninteressante Mädchen, dieses namenlose Mädchen, dass bei Jan wohnt.
Außer Jan hatte ich niemanden und
ich dachte ich würde auch niemanden brauchen. Ich war überzeugt davon, dass ich
ohne Menschen in meinem Leben viel zufriedener sein würde und um ehrlich zu
sein war ich auch überzeugt davon, dass kein Mensch Interesse an mir haben
würde, erst Recht kein Mann. Ich war ein Einzelgänger, liebte die Ruhe und das
allein sein. Viel lieber zog ich mich zu Hause zurück, las ein Buch oder
verschwand in der Badewanne, anstatt mich abends gemeinsam mit meinen
Kommilitonen einer Bar-Tour anzuschließen.
Marc war anders, er war offen. Er
war das Gegenteil zu mir. Ihn konnte ich mir gut vorstellen zwischen viele
Freunden auf einer Party. Er hatte sicher keine Probleme, so wirkte er zu minderst.
Wenn man Marc in die Augen sah, hatte man das Gefühl es gäbe keine Probleme und
falls doch, wüsste er sofort die Lösung dafür.
Ich erfuhr einiges an diesem
Nachmittag. Ich erfuhr, dass er seit diesem Jahr Politik und Literatur
studierte, nachdem er sein Maschinenbaustudium geschmissen hatte.
Ich erfuhr, dass er seit seinem 2.
Lebensjahr alleine mit seinem Vater groß geworden war. Ich erfuhr, dass es
blondes kurzes Haar war, dass er unter seiner Mütze versteckte.
Was ich damals nicht erfuhr, dass
ich eines Tages ein Buch über ihn schreiben würde.